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Schengen vor populistischem Missbrauch schützen

Zum Beschluss der EU-InnenministerInnen

Die EU-InnenministerInnen provozieren mit ihrer heutigen Entscheidung (7. Juni 2012) zu Schengen einen Grundsatzstreit mit dem Europaparlament. Sie wollen die Möglichkeit für Grenzkontrollen in der EU ausweiten. Und sie wollen das Parlament bei einem Teil des Schengenpakets von der Mitentscheidung ausschließen. Es zeichnet sich ab, dass das Parlament dagegen beim Europäischen Gerichtshof Klage erheben wird. 

InnenminsterInnen wollen Möglichkeit für Grenzkontrollen ausweiten

Was die EU-InnenministerInnen wollen, lässt sich in einem Satz so zusammenfassen: Sie wollen die Möglichkeit für Grenzkontrollen in der EU ausweiten. Sie wollen neue Gründe für Grenzkontrollen einführen und die Reisefreiheit künftig auch bei schwerwiegenden Defiziten bei der Kontrolle von Außengrenzen einschränken, sprich: wenn zu viele MigrantInnen über die Grenze kommen. Gleichzeitig blockieren sie vehement, dass über die Einführung von Grenzkontrollen künftig auf europäischer Ebene entschieden wird. Stattdessen wollen sie weiter im Alleingang entscheiden. 

1. Wiedereinführung von Grenzkontrollen 

Nach dem Willen des EU-Innenministerrats sollen die Mitgliedsstaaten nach wie vor im Alleingang über die Einführung von Grenzkontrollen entscheiden (etwa bei politischen oder sportlichen Großereignissen). Wie bisher auch, muss ein Mitgliedsstaat, der Grenzkontrollen vorübergehend wiedereinführen will, die Kommission und die anderen Mitgliedsländern dann nur unverbindlich konsultieren. Der Vorschlag der Kommission ist damit komplett vom Tisch. Sie wollte die Entscheidung vergemeinschaften und so sicherstellen, dass die Reisefreiheit als eine der größten Errungenschaften der EU nur in absoluten Ausnahmefällen beschnitten wird. Grenzkontrollen sollten nur wiedereingeführt werden dürfen, wenn es aus gesamteuropäischer und nicht nur aus einzelstaatlicher Sicht  gute Gründe dafür gibt. Das von der Kommission dazu vorgeschlagene Verfahren sieht vor, dass die Kommission einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet, dem ein Ausschuss der Mitgliedsstaaten dann zustimmen muss. 

2. Faktischer Ausschluss eines Landes aus Schengen durch die Wiedereinführung von Binnenkontrollen, wenn das Land nachhaltige Defizite bei der Kontrolle seiner Außengrenzen hat

Auch wenn ein Mitgliedsstaat nachhaltige Defizite bei der Kontrolle seiner Außengrenzen hat (Lex Griechenland), wollen die Mitgliedsstaaten die Entscheidung letzten Endes nicht aus ihrer Hand geben. Der Beschluss der Innenminister sieht zwar vor, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission eine Empfehlung ausspricht. Diese ist aber für die Mitgliedsstaaten nicht rechtlich bindend. Damit hat sich der deutsch-französische Vorschlag weitgehend durchgesetzt. Anstelle der von der Kommission vorgeschlagenen Gemeinschaftsmethode (wie oben), die einen starken Schutz vor Rechtspopulismus und innenpolitische motivierten Einschränkungen der Reisefreiheit bedeutet hätte, können Mitgliedsstaaten auch über den faktischen Ausschluss eine Landes aus Schengen letztlich selbst entscheiden. Die Grenzkontrollen können insgesamt für 2 Jahre aufrechterhalten werden (4 x 6 Monate). 

3. Schengen-Evaluationsmechanismus

Der faktische Ausschluss eines Landes aus Schengen ist als letzte Sanktionsmöglichkeit gegen nachlässige Mitgliedsstaaten gedacht. Dem voraus geht ein Evaluationsverfahren, mit dem überprüft und kontrolliert wird, wie gut die Mitgliedsstaaten ihre Außengrenzen tatsächlich kontrollieren (oder Binnenkontrollen unterlassen). Auch hier bleibt der Rat weit hinter den Vorschlägen der Kommission zurück. Er hat die Evaluation so weit abgeschwächt, dass sie keine starke Möglichkeit bietet, schwerwiegende Defizite rechtzeitig zu vermeiden und es erst gar nicht bis zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen kommen zu lassen. Anstelle einer unabhängigen Evaluation unter der Federführung der Kommission, will der Rat es im Wesentlichen beim peer-to-peer-Verfahren belassen, bei dem sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig evaluieren. Die Entscheidung über die jeweiligen Evaluationsberichte und die damit verbundenen Empfehlungen trifft der Rat, nicht die Kommission. Die Kommission sieht in ihrem Vorschlag außerdem verbindliche Auflagen für nachlässig kontrollierende Mitgliedsstaaten vor (etwa den Einsatz von European Border Guard Teams / Frontex). In der Fassung des Rats dagegen werden aus den Auflagen nur noch "Empfehlungen".  

Mehr noch, auch das Europaparlament soll außen vor bleiben. Der Rat will die von der Kommission vorgeschlagene Rechtsgrundlage für den Evaluationsmechanismus ändern: Artikel 70 AEUV statt Artikel 77 (2) (e) AEUV - mit dem Effekt, dass das Parlament kein Mitentscheidungsrecht über die Ausgestaltung des Verfahrens mehr hat*. Aus Parlamentssicht ist das ein Affront, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass das Parlament dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof klagen wird. Der konservative Berichterstatter Carlos Coelho hat bereits angekündigt, dass er eine Klage anstrebt. Das Parlament hat sich von Anfang an für einen starken Evaluationsmechanismus ausgesprochen. Wenn es jetzt von der Mitentscheidung ausgeschlossen wird, gibt es kein Korrektiv mehr gegen die Verwässerung durch den Rat. 

Wir Grünen wollen ein starkes Schengen! 

Wir wollen Schengen vor populistischem Missbrauch schützen! Der Rat hat alle Vorkehrungen gestrichen, die verhindern könnten, dass die Mitgliedsstaaten Grenzkontrollen aus populistischen oder innenpolitisch motivierten Gründen wieder einführen. Wer in Wahlkampfzeiten mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen den "starken Mann" oder die "starke Frau" mimen will, kann das auch weiterhin ungehindert tun. Das ist mit uns Grünen nicht zu machen. Wir wollen, dass Grenzkontrollen nur wiedereingeführt werden können, wenn es aus gesamteuropäischer und nicht nur aus einzelstaatlicher Sicht  gute Gründe dafür gibt. Die Entscheidung über Grenzkontrollen muss deshalb gemeinsam auf EU-Ebene getroffen werden. Die EU-Kommission muss eine zentrale Rolle bekommen. Nur so können wir Schengen vor dem populistischen Missbrauch durch einzelne Regierungen schützen. 

Wir wollen keinen Rückfall in intergouvernementale Zeiten! Schengen ist längst keine intergouvernmentale Angelegenheit mehr. Der erste Schritt zur Vergemeinschaftung war die Integration von Schengen in den Vertrag von Amsterdam. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Reisefreiheit im Schengenraum weiter als Gemeinschaftsangelegenheit und -anliegen konsolidiert. Dass die Mitgliedsstaaten jetzt so vehement darauf pochen, dass Schengen reine Regierungsangelegenheit ist, kommt einem Rückfall in intergouvernementale Zeiten gleich. Das werden wir Grünen nicht akzeptieren. Wir unterstützen die Klage, die das Europaparlament vor dem Europäischen Gerichtshof anstrebt. Das Europaparlament muss an der Entscheidung zum Schengenpaket voll beteiligt werden. Nur so hat es die Möglichkeit, Schengen gegenüber Regierungen zu stärken, die lieber Einschnitte in die Reisefreiheit in Kauf nehmen als Entscheidungen über Grenzkontrollen gemeinschaftlich zu treffen. 

Wir wollen Reisefreiheit! Schengen ist eine der größten Errungenschaften der EU und ein hohes Gemeinschaftsgut. Für zwei Drittel der EU-BürgerInnen ist es laut einer aktuellen Eurobarometer-Umfrage wichtig, ohne interne Grenzkontrollen innerhalb der EU reisen zu können. Schengen muss deshalb auch besonders geschützt werden. Die Einschränkung der Reisefreiheit betrifft alle EU-BürgerInnen. Sie ist keine nationale Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit aller in der EU. Deshalb wollen wir Grünen starke Vorkehrungen für Schengen: Damit wir alle auch in Zukunft ohne Passkontrollen und Warteschlangen durch Europa reisen können. 


* Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht um die Beteiligung des Europaparlaments an den Evaluationen selbst, sondern es geht um die Mitentscheidung des Parlaments bei der Ausgestaltung des Verfahrens, etwa bei der Frage, wer die Evaluationen durchführt und wer die Auflagen an den betroffenen Mitgliedsstaat beschließt. 

Responsible MEPs

Ska Keller
Ska Keller
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