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Nein zur Bolkestein-Richtlinie: eine Grüne Alternative

Positionspapier: Dienstleistungsrichtlinie gefährdet soziale Standards

Warum sind die Grünen gegen diese Richtlinie?

Die Grünen unterstützen das Ziel, ungerechtfertigte Hindernisse bei der Freizügigkeit von Dienstleistungen zu reduzieren, sprechen sich aber gegen die wachsende Neigung der EU-Kommission aus, das Ziel einer Harmonisierung nach oben aufzugeben. Der Richtlinienenwurf für Dienstleistungen im Binnenmarkt ist wegen der Beseitigung innerstaatlicher Bestimmungen ohne vorherige Harmonisierung ungeeignet. Folglich sind die Grünen gegen die sogenannte Bolkestein-Richtlinie, insbesondere aus den folgenden Gründen:

  1. Der Rechtfertigungsgrund für den Kommissionsvorschlag ist eher ideologischer denn praktischer Natur.
    Die EU-Kommission stellte die Richtlinie im Januar 2004 als logisches und zentrales Element der Lissabon-Strategie vor, dergemäß die EU bis zum Jahre 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden soll. Außerdem betrachtet die EU-Kommission die Richtline als konkrete Umsetzung des EU-Vertrages, der die Freizügigkeit von Dienstleistungen vorsieht. In Wirklichkeit haben die bisherigen Diskussionen um die Richtlinie gezeigt, dass sie weder die nötige Rechtssicherheit, noch Transparenz bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen schafft. Niemand fordert wirklich eine so weit reichende Richtlinie. Dies wurde besonders bei den Anhörungen deutlich, die vom Europaparlament im November 2004 abgehalten wurden und bei denen sogar Arbeitgeber aus dem Dienstleistungssektor zum Ausdruck brachten, dass sie die Richtlinie ablehnen.

  2. Die Richtlinie wird zu Sozial- und Umweltdumping führen.
    Die Richtlinie sieht das Herkunftslandprinzip als grundlegende Regel für den freien Verkehr von Dienstleistungen vor (mit einer Reihe von Ausnahmen). Demnach wären Dienstleister nicht mehr den Gesetzen und Bestimmungen desjenigen Landes unterworfen, in dem ihre wirtschaftliche Aktivität stattfindet, sondern vielmehr des Landes, in dem sie ihren Firmensitz haben. Mit der Anwendung des Herkunftslandsprinzips ohne vorherige Harmonisierung werden Dienstleister in Zukunft dazu neigen, sich in den Mitgliedstaaten mit den niedrigsten Standards niederzulassen. Durch derartige Gesetze würde die Europäische Union auf eine Harmonisierung auf hohem Niveau im Bereich Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik als zentralem Aspekt des Binnenmarktes verzichten.

  3. Die Auswirkungen der Richtlinie auf Wachstum und Beschäftigung werden überschätzt.
    Ein zentrales Argument, das immer wieder von der EU-Kommission in diesem Zusammenhang angeführt wird, ist, dass Dienstleistungen ein riesiges Potential für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze bieten. Die EU-Kommission hat wiederholt folgende Zahlen angeführt : Dienstleistungen machen 70 % des nationalen BSP aus, jedoch nur 20% der Exporte. Es trifft zwar zu, dass der Dienstleistungssektor viele neue Jobs geschaffen hat. Das heißt jedoch nicht, dass die Anzahl der Beschäftigten in diesem Bereich durch mehr Wettbewerb auf der EU-Ebene steigen würde. Die meisten Dienstleistungen decken lokale Bedürfnisse ab und es gibt für sie wenig Gründe, ins Ausland abzuwandern. Die Bolkestein-Richtlinie würde eher die Entwicklung von großen transnationalen Konsortien von Dienstleistungsanbietern begünstigen und dadurch kleinere Anbieter vor Ort gefährden.

  4. Der Anwendungsbereich ist viel zu weit gefasst und beinhaltet Dienstleistungen allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesses.
    Der Richtlinienentwurf betrifft alle Dienstleistungen, abgesehen von drei Ausnahmen (Finanzdienstleistungen, elektronische Kommunikation und Verkehr). Die meisten Dienstleistungen allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesses in Bereichen wie Gesundheitswesen, soziale Dienste, Kultur, Bildung, audiovisueller und Medienbereich wären darin eingeschlossen, soweit der Empfänger ganz oder teilweise die Kosten trägt. Es besteht weiterhin die Gefahr einer wachsenden Medienkonzentration und eine Infragestellung der EU-Positionen bei den Verhandlungen des GATS. Trotz wiederholter Forderungen von Seiten des Europäischen Parlamentes gibt es keinen begleitenden Rahmen-Richtlinienvorschlag für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Der Bolkestein-Vorschlag gefährdet insbesondere die Qualität sozialer und Gesundheitsdienste, die in allen Mitgliedstaaten von staatlich finanzierten Solidarsystemen abhängig sind, aber auch von der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, verläßliche Vorausplanung durchzuführen.

  5. Die Richtlinie steht potentiell im Widerspruch zu einigen Bestimmungen der neuen EU-Verfassung.
    Im Gegensatz zu den Behauptungen mancher Verfassungsgegner, ist die Bolkestein-Richtlinie kein Ausdruck "neoliberaler Politik", der sich aus dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ergeben würde. Sie ist vielmehr ein klares Beispiel für die "neoliberale Politik", die der derzeitig geltende Vertrag von Nizza erlaubt. Selbst wenn die Verfassung keinerlei Garantien dafür bietet, dass Gesetze im Stile der Bolkestein-Richtlinie nicht auch weiterhin verabschiedet werden könnten, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Verfassung die Möglichkeit einräumt, eine andere Politik zu betreiben. Es wäre möglich auf Grundlage der Verfassung eine Rahmenrichtlinie zu schaffen, die die spezifische Rolle der allgemeinen (wirtschaftlichen) Dienstleistungen bewahren und fördern würde.

  6. Es gab bisher keine ernstzunehmende Untersuchung über die Auswirkungen der Richtlinie, weshalb sie zu vielen rechtlichen Unwägbarkeiten führen könnte.
    Das Herkunftslandsprinzip zum Beispiel gerät in Konflikt mit den Bestimmungen über vertragliche und nicht-vertragliche Schuldverhältnisse (Rom 1 und 2). Die Tatsache, dass die Bolkestein-Richtlinie zusammen mit anderen, dienstleistungs-bezogenen europäischen Rechtsakten kumulativ wirken würde (z.B. der Entsende-Richtlinie, der Richtlinien über "Fernsehen ohne Grenzen" und derjenigen über unfaire Handelspraktiken sowie dem Richtlinienentwurf über die Anerkennung beruflicher Qualifikationen) und dass Letztere nicht Vorrang vor der Bolkestein-Richtlinie hätten, vergrößert diese juristischen Unwägbarkeiten noch weiter.

  7. Die Richtlinie ist insbesondere unvereinbar mit der Entsenderichtlinie.
    Die Bolkestein-Richtlinie sieht theoretisch (in Art. 17) vor, dass das Herkunfts-landsprinzip nicht für die Entsenderichtlinie gilt. Andererseits legt sie auch (in Art. 24) fest, dass die Mitgliedstaaten Dienstleister nicht zwingen dürfen, von den Behörden des Gastlandes eine Genehmigung zu verlangen oder dort einen Vertreter zu haben oder auf dem Territorium des Gastlandes Beschäftigungsunterlagen vorzuhalten. Damit würde den Mitgliedstaaten die Durchführung wirkungsvoller Kontrollen der Arbeitsbedingungen und der Einhaltung der Tarifverträge unmöglich gemacht, wodurch der soziale Schutz der Arbeitskräfte und die Rolle der Sozialpartner in Frage gestellt würde.

  8. Es gäbe bessere Wege, einige der zentralen Ziele der EU-Kommission zu erreichen.
    Wenn das Ziel lautet, ungerechtfertigte Barrieren für die Freizügigkeit von Dienstleistungen zu beseitigen und die bestehenden Bestimmungen zu vereinfachen, so sind die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Mittel ungeeignet. Das Prinzip des Herkunftslandes z.B. würde die Behörden und die Justiz in den Mitgliedstaaten zwingen, sich mit 25 unterschiedliche Rechtssystemen in 20 verschiedenen Sprachen ausein-anderzusetzen, was zu mehr (und nicht etwa weniger) Bürokratie führen würde. Zahlreiche soziale und politische Akteure - die Grünen eingeschlossen - befürworten zwar die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen. Ein freier Markt für kommer-zielle Dienstleistungen könnte jedoch auch durch die Anwendung des entgegengesetzten Prinzips geschaffen werden (Gastlandprinzip). Schrittweise Konvergenz unter den Mitgliedstaaten könnte besser durch die Methode der "offenen Koordinierung" als durch die Beseitigung einer Reihe von Anforderungen, die von den Mitgliedstaaten für die Genehmigung von Dienstleistungen eingeführt wurden, erreicht werden, so wie es jetzt die Bolkestein-Richtlinie vorschlägt.

 Alternativvorschläge

Die Grünen :

  1. Fordern die Rücknahme des Richtlinienentwurfs Bolkestein.

  2. Fordern die EU-Kommission auf, eine Rahmenrichtlinie vorzuschlagen, um die grund-legenden Prinzipien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse festzulegen und die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen eine Finanzierung durch die öffentliche Hand und der allgemeine Zugang zu diesen Dienstleistungen ohne Diskriminierung hinsichtlich der sozialen Lage oder des Wohnortes sichergestellt ist.

  3. Fordern die EU-Kommission auf, eine Untersuchung über die Folgen der derzeitigen sektoralen Liberalisierungen im Dienstleistungsbereich durchzuführen (Energie, Postdienste, Verkehr etc.), bevor weitere Liberalisierungsvorschläge vorgelegt werden.

  4. Fordern die EU-Kommission auf, eine verbesserte Entsenderichtlinie vorzulegen, in der die Rechte der ArbeitnehmerInnen und der soziale Dialog gestärkt, das Anwendungsgebiet erweitert wird und die Tarifverträge bei ihrer Umsetzung voll und ganz mit eingeschlossen werden.

  5. Schlagen einen alternativen Ansatz für eine begrenzte Anzahl von wirtschaftlichen Dienstleistungen vor. Dieser Alternativansatz sollte dem Ziel der gemeinschaftlichen Harmonisierung entsprechen und auf folgenden Grundsätzen basieren :

    1. Der Anwendungsbereich sollte mittels einer Positivliste definiert werden, so dass tatsächlich nur wirtschaftliche Tätigkeiten von Selbstständigen auf Grundlage von Art. 47 EG-Vertrag betroffen sind. Bereiche wie z.B. Bildung, Kultur, audiovisuelle Dienste, Gesundheitsdienste und sonstige soziale Dienste, Beschäftigungsdienste, Wasser- und Energieversorgung, Abfallbeseitigung und Umweltschutzmaßnahmen sind auszunehmen. Bolkesteins Ansatz, der dagegen auf einem großen Anwendungsbereich basiert und nur wenige Dienstleistungen explizit ausnimmt, lehnen wir ab.
    2. Bei der Freizügigkeit von Dienstleistungen sollte das Gastlandprinzip statt des Herkunftslandprinzips gelten, solange es keine volle Harmonisierung hinsichtlich des Zugangs zu und der Ausübung einer Dienstleistungsaktivität gibt, insbesondere bzgl. des Verhaltens des Dienstleisters, der Qualität oder des Inhalts der Dienstleistung, der Werbung, der Verträge und der Haftung des Dienstleisters.
    3. Hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit, sollte die Methode der offenen Koordinierung Vorrang haben statt eines gesetzgeberischen Ansatzes, um die Anforderungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Bereich Versorgung mit Dienstleistungen vergleichen zu können. Dies führt dann schrittweise zu mehr Konvergenz und dem Ziel zukünftiger Harmonisierung (sowie der Pflicht zu Ergebnissen innerhalb eines bestimmten Zeitraums).
    4. Schaffung eines einheitlichen Ansprechpartners und anderer administrativer Einrichtungen, um Dienstleistern den Zugang zu relevanten Informationen zu ermöglichen und die Zusammenarbeit unter den verschiedenen Behörden in den Mitgliedstaaten zu verbessern.

  6. Fordern die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten auf, mehr EU-Programme im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie aufzulegen, um das Beschäfti-gungsniveau anzuheben und die Chancengleichheit im Dienstleistungssektor zu vergrössern, insbesondere in den Bereichen Umweltschutz, soziale Dienste, Kultur und Mobilität.

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