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Neoliberale Ideologie geht auf Kosten der Milchbäuerinnen und -bauern

Interview mit Jan Slomp, Milchbauer und Präsident der kanadischen Bauernvereinigung NFU

Herr Slomp, Sie haben vor kurzem einen Brief an den EU-Agrarkommissar Hogan geschickt, in dem sie ihm die Vorteile des kanadischen Modells zur Regulierung des Milchmarkts erläutern. Sie argumentieren, dass auch Europa mit einem ähnlichen Modell seine Milchkrise lösen könnte. Wie soll das funktionieren?

Lassen Sie mich etwas ausholen. Wir hatten in Kanada in den 1960er Jahren ein ganz ähnliches Problem wie Europa, nämlich eine Überproduktion an Milch, die viele Betriebe zum Aufgeben zwang. Ein Jahr lang haben die Bäuerinnen und Bauern miteinander diskutiert, und am Ende sind sie zu dem Schluss gekommen, dass nur eine Einschränkung der Produktion die Krise lösen könnte. Aus dieser Zeit stammt das System des Milchmengen-Managements, das auf drei Säulen aufbaut und heute noch immer in Kraft ist: Erstens wird die produzierte Menge an die Nachfrage auf dem kanadischen Markt angepasst. Zweitens wird der Preis, den bäuerliche Produzenten für ihre Milch erhalten, anhand von einem Index errechnet, der die Produktionskosten in jeder Region miteinberechnet. Außerdem schützt der kanadische Staat seine Milchbetriebe durch Zölle, damit keine billige Weltmarktmilch den kanadischen Markt überschwemmt.

Der Nachteil des Mengen-Managements ist, dass wir kaum etwas exportieren. Das ist natürlich für Verfechter des Freihandels inakzeptabel. Aber das Modell erlaubt es den bäuerlichen Familienbetrieben, ein gutes Einkommen zu erwirtschaften. Die Bürgerinnen und Bürgern bekommen Milchprodukte zu vernünftigen Preisen. Und das Beste: Es braucht nicht subventioniert zu werden. Das ganze System wird von den bäuerlichen Betrieben selbst bezahlt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Millionen von Euro, die derzeit als Notmaßnahme in den europäischen Milchsektor fließen, mit Steuergeldern bezahlt werden. Doch dadurch kann der Markt maximal kurzfristig entlastet werden. Wenn Europa aber seine Milchbäuerinnen und -bauern und seine ländlichen Räume langfristig am Leben erhalten will, dann ist ein Milchmengen-Management wie in Kanada die beste Option.

Sicher wären die meisten europäischen VerbraucherInnen einverstanden, wenn die MilcherzeugerInnen einen gerechten Anteil des Preises erhielten, den sie im Supermarkt ausgeben. Gleichzeitig werden die ethischen Ansprüche an die Lebensmittelerzeugung immer höher. Die europäischen Bürgerinnen und Bürgern legen immer mehr Wert darauf, dass Kühe artgemäß gehalten werden, dass sie auf die Weide dürfen und ihnen kein Gen-Soja verabreicht wird. Ist das kanadische Modell auch geeignet, um Bäuerinnen und Bauern bei einer tier- und umweltfreundlichen Wirtschaftsweise zu unterstützen?

Das kanadische System gibt den Milchbetrieben eine viel größere Planungssicherheit. Daher können Investitionen in bessere Ställe, Weidehaltung und weiteres viel einfacher umgesetzt werden als in einem System, in dem die Bäuerinnen und Bauern ständig um ihre Existenz bangen müssen. Das kanadische Milchmengen-Management gibt den Betrieben ein stabiles Einkommen, und im Gegenzug können Umwelt- und Tierschutzvorgaben daran gebunden werden.

Derzeit sieht es so aus, als ob sich Europa genau in die gegengesetzte Richtung bewegt. EU-Agrarkommissar Hogan war erst kürzlich zu Besuch in Mexiko, Kolumbien, China und Japan, um neue Märkte für Europas Produkte zu erschließen...

Das Milchmengen-Management bedeutet ja nicht, dass man ganz aufhören muss, zu exportieren. Aber man kann nicht auf der einen Seite eine aggressive Exportstrategie verfolgen und auf der anderen Seite die eigenen bäuerlichen Betriebe schützen wollen. Handel sollte immer beiden beteiligten Ländern nutzen. Wenn die heimische Nachfrage nach Milchprodukten gedeckt ist und andere Länder europäische Milch importieren wollen, nur zu. Aber oft ist es doch so, dass mehr Produktion und Exporte zum Selbstzweck werden. Auch in Kanada haben wir viele scharfe Verfechter des Freihandels. Viele PolitikerInnen haben die steigenden Exporte von kanadischen Lebensmitteln als einen großen Erfolg gefeiert. Aber was sie vergessen ist, dass die Importe gleichzeitig ebenso stark zugenommen haben. Am Ende geben wir damit unsere Souveränität über unsere eigenen Angelegenheiten auf und können nicht mehr entscheiden, wie unsere Lebensmittel produziert werden sollten.

Viele Freihandelsabkommen sollten besser „Zwangshandelsabkommen” heißen, denn sie führen zu Dumping von Produkten auf die Märkte anderer Länder. Nehmen wir das Beispiel von CETA, dem Abkommen zwischen Kanada und Europa, der derzeit heißesten Kartoffel. Es sieht vor, die Importquoten für europäischen Käse nach Kanada um 17 000 Tonnen anzuheben. Das entspricht der Produktion von 400 kanadischen Milchviehbetrieben! Es wäre ja noch nicht so schlimm, wenn wenigstens die europäischen Bäuerinnen und Bauern dadurch ein gesichertes Einkommen hätten. Aber das haben sie nicht. Diese 17 000 Tonnen Käse sind ein heftiger Schlag gegen das kanadische Milchmarkt-Modell. Kanada hätte dieser Quotenerhöhung niemals zustimmen sollen. Aber die Milcherzeuger sind nicht stark genug aufgetreten und haben sich mit Entschädigungszahlungen zufrieden gegeben. Das hilft vielleicht den bestehenden Milchbetrieben, aber es hilft nicht den zukünftigen Generationen, die einmal in die Landwirtschaft einsteigen wollen.

Das EU-Kanada Handelsabkommen CETA führt in Europa gerade zu Massenprotesten. Wie steht die kanadische Zivilgesellschaft zu diesem Abkommen?

Die kanadische Zivilgesellschaft protestiert heftig gegen diesen Vertrag. Die nationale Bauernvereinigung teilt ihre Befürchtungen, z.B. gegenüber Schiedsgerichtsverfahren, die großen Konzernen nutzen. Bezüglich Landwirtschaft, Lebensmitteln und ländlichen Regionen habe ich bereits erklärt, wie die kanadischen Milchbäuerinnen und Milchbauern unter CETA leiden würden. Darüber hinaus kritisieren wir auch die schweren Einschränkungen des bäuerlichen Rechts auf Saatgutvermehrung und -wiederverwendung. Auch würde das Verbot einer Bevorzugung lokaler Produkte im öffentlichen Beschaffungswesen dazu führen, dass die Versorgung mit regionalen Lebensmitteln eher ab- als zunimmt. Es gibt also genug Gründe, um dieses Abkommen abzulehnen.

Vielen Dank für dieses Interview, Herr Slomp. Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Also, ich hatte gestern die Gelegenheit, einen Milchviehbetrieb zu besuchen, der von einem 35jährigen Bauern geführt wird. Ich bin immer wieder froh, junge Menschen zu sehen, die die Energie, den Mut und die Motivation aufbringen, in die Landwirtschaft zu gehen. Ich will einfach nicht glauben, dass wegen eines ideologischen Glaubens an eine neoliberale Markt-Orthodoxie die Existenzen von bäuerlichen Familienbetrieben leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Seit mehr als fünfzig Jahren geht die Zahl an Höfen zurück. Wenn die europäischen Bürgerinnen und Bürger, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, an das europäische Projekt glauben sollen, dann muss die Politik jetzt dafür sorgen, dass das soziale Gewebe in den ländlichen Räumen erhalten bleibt. Die Politik muss an die zukünftigen Generationen denken, wenn Verträge abgeschlossen werden. Wenn das nicht passiert, wenn die ländlichen Regionen immer weiter ausgehungert werden, dann entsteht ein fruchtbarer Boden für rechte Parteien. Das lässt sich bereits in vielen Teilen Europas beobachten und kann langfristig das europäische Projekt zum Kriseln bringen. Deswegen müssen Probleme angegangen werden, anstatt sie zu verleugnen. Die kanadische Erfahrung zeigt, dass es eine Lösung für die Milchkrise gibt - Europas Politikerinnen und Politiker müssen sich jetzt entscheiden.

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