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Policy Paper |

Gebt die Milliarden den Millionen

Die EU braucht dringend eine Steuer auf Kapitalgewinne

Die steuerliche Bevorteilung von Kapitalerträgen im Vergleich zu Arbeit ist eine der Hauptursachen für die Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Denn Kapitalerträge werden in der EU kaum besteuert. Was genau sind Kapitalerträge? Warum ist ihre Besteuerung ein wichtiges Instrument im Kampf für wirtschaftliche Gerechtigkeit? Die nächsten Abschnitte sollen einen Einblick ins Thema geben und die Argumente für eine Steuer auf Kapitalerträge in der Europäischen Union darlegen.

 

Was sind Kapitalgewinne?

 

Ein Kapitalgewinn ist im Grunde der Gewinn, den jemand erzielt, wenn der Wert eines Vermögenswerts im Vergleich zum ursprünglichen Kaufpreis steigt. Es gibt sogenannte realisierte und nicht-realisierte Kapitalgewinne. Dies hängt davon ab, ob man den Vermögenswert verkauft und Geld für den zusätzlichen Wert erhalten hat (realisiert) oder ob man den Vermögenswert noch hält, während sein Wert steigt (nicht- realisiert).

Wenn beispielsweise jemand mehrere Häuser kauft und deren Wert vom ursprünglichen Preis von 200.000 Euro auf 500.000 Euro steigt, hat er einen nicht realisierten Kapitalgewinn von 300.000 Euro. Wenn er die Häuser zum neuen Preis verkauft, hat er einen realisierten Wertzuwachs von 300.000 Euro pro Haus.

Das Interessante an diesen Kapitalgewinnen ist, dass sie so hoch sein können wie das  Jahresgehalt von einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin. Während jedes Monatsgehalt von Arbeitnehmer*innen mit einer Einkommenssteuer belegt wird, sind die Steuern auf Kapitalgewinne viel niedriger. Während also ein*e Arbeitnehmer*in mit einem Jahresbruttogehalt von 30.000 Euro im Durchschnitt 39 Prozent Steuern und Sozialabgaben zahlt, zahlt die Person, die 30.000 Euro Gewinn aus dem Verkauf einer Luxustasche erzielt hat, kaum Steuern für diesen Gewinn: Es sind durchschnittlich 19 Prozent in der EU, aber mit den Ausnahmeregelungen und Schlupflöchern können es auch null Prozent sein.

 

Warum sind also Kapitalerträge wichtig?

 

Wir befinden uns mitten in einer Wirtschaftskrise, trotzdem scheinen wir nie aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: Wir sehen die Volatilität des Bankensektors oder die hohe Inflation - und Familien, die immer noch darum kämpfen, finanziell über die Runden zu kommen. Und mittendrin gibt es Menschen, die davon profitieren und nur sehr wenig Steuern auf ihre Gewinne zahlen.

Denn natürlich werden Kapitalgewinne erzielt, wenn der Wert eines materiellen Vermögenswerts steigt (etwa eines Hauses, einer Luxustasche, von Schmuck, Kunst etc usw.). Aber Kapitalgewinne können auch erzielt werden, wenn der Wert eines finanziellen Vermögenswerts steigt. Ein Beispiel dafür ist der Wert von Unternehmensaktien und -anteilen. Die Aktionär*innen von Unternehmen, die zurzeit Supergewinne machen, die jedes Quartal Dividenden kassieren und von der Krise profitieren, machen gleichzeitig auch Kapitalgewinne und zahlen nur sehr wenig oder gar keine Steuern darauf.

Das heißt: Ein*e Arbeitnehmer*in eines Energieunternehmens zahlt Steuern auf das Jahresgehalt, während ein*e Aktionär*in desselben Unternehmens wenig bis gar keine Steuern auf die Gewinne zahlt, die er oder sie mit diesen Aktien erzielt (unabhängig davon, ob durch Verkauf oder nicht).

Die Reichen werden reicher, weil das System sie begünstigt. Es sind die reichsten zehn Prozent der Haushalte, die Aktien und Unternehmensanteile besitzen. Aktienkurse sind aber schneller gestiegen als Gehälter oder Immobilienpreise. Nehmen wir  Frankreich zum Beispiel: Die obersten 0,01 Prozent beziehen sechzig Prozent ihres Einkommens aus Kapital.  Dieses Kapital besteht zumeist aus Finanzanlagen wie börsennotierten Aktien oder  Wertpapiere.

Oxfam hat bereits in seinem jährlichen Ungleichheitsbericht gezeigt, dass sich die Kluft zwischen dem einen Prozent der wohlhabendsten Haushalte und den restlichen 99 Prozent seit Beginn der Pandemie vergrößert hat. Wie groß ist das Wohlstandsgefälle? Von 100 Euro, die zwischen 2020 und 2021 in der europäischen Wirtschaft erwirtschaftet wurden, gingen 44 Euro an das reichste ein Prozent und 9,6 Euro an die unteren 90 Prozent.  Mit anderen Worten: Die reichsten ein Prozent haben zwischen 2020 und 2021 viereinhalb Mal mehr verdient als die weniger wohlhabenden neunzig Prozent der EU-Bürger*innen.

Wir wissen, dass das Einkommen dieser Wohlhabenden nicht aus Gehältern stammt sondern aus Investitionen und daraus erzielten Kapitalgewinnen. Die Mehrheit der Bevölkerung besitzt keine fünf Wohnungen oder Anteile an den größten Pharmakonzernen. Ihre Arbeit wird mit durchschnittlich 39 Prozent besteuert, während die Kapitalerträge mit durchschnittlich 19 Prozent deutlich weniger besteuert werden. Aktionär*innen nutzen dieses System also für sich. In Dänemark etwa halten die wohlhabendsten ein Prozent mehr als die Hälfte aller in diesem Land erzielten Kapitalgewinne. Ein weiteres Beispiel: Frankreich. Die reichsten 0,01 Prozent beziehen sechzig Prozent ihres Einkommens aus Kapitalerträgen - und die bestehen meist aus Finanzanlagen wie börsennotierten Aktien oder Wertpapieren.

 

Was können wir dagegen tun?

 

Die Antwort liegt auf der Hand: Wir müssen sowohl realisierte als auch nicht-realisierte Kapitalgewinne besteuern. Die meisten EU-Länder tun dies entweder nicht oder gewähren zu viele Steuerschlupflöcher. Während zum Beispiel in Deutschland ein*e alleinstehende*r Arbeitnehmer*in ohne Kinder auf den Durchschnittslohn 47,8 Prozent Steuern bezahlt[1]  - in Belgien sind es sogar mehr als fünfzig Prozent -, sind Länder wie Belgien, Luxemburg, Slowenien, die Slowakei und die Tschechische Republik gleichzeitig Steuerparadiese für  Kapitalerträge mit einem Steuersatz von null Prozent. Es ist kein Zufall, dass einige französische Milliardär*innen ihre Vermögen in Belgien haben. Und das gilt nur für realisierte Kapitalgewinne. Nicht-realisierte Kapitalgewinne werden in kaum einem EU-Land besteuert.

Andernorts hat man das Problem erkannt: Im März 2023 schlug Präsident Joe Biden vor, realisierte Kapitalgewinne in gleicher Höhe wie Löhne zu besteuern und den Steuersatz für Kapitalgewinne von zwanzig auf 39 Prozent anzuheben.

In der EU müssen wir uns in dieselbe Richtung bewegen - und zwar bald. Wir können uns kein Europa leisten, das die Interessen von Aktionär*innen über die von Hunderttausenden Arbeitnehmer*innen stellt. Deshalb fordern wir als Grüne/EFA die Europäische Kommission auf, eine reale Mindeststeuer auf Kapitalgewinne in der EU einzuführen. Diese Steuer würde sowohl die realisierten als auch die nicht-realisierten Kapitalgewinne von börsennotierten Aktien betreffen, d.h. sie würde auch für die Aktien von multinationalen Unternehmen in öffentlichem Besitz gelten. Denn: Die reichsten Haushalte erwirtschaften den Großteil ihres Vermögens mit Kapitalgewinnen aus Finanzanlagen wie etwa Aktien.

Unser Vorschlag ist einfach und beruht auf einer ganz grundlegenden Überzeugung: Es kann nicht sein, dass Arbeit höher besteuert wird als Kapital. Es kann nicht sein, dass die große Masse neunzig Prozent der Steuerlast trägt, während die Reichsten profitieren.

Wir wollen eine Mindeststeuer von vierzig Prozent auf Kapitalerträge einführen. Dies ist der erste Schritt, um sicherzustellen, dass wir Ungleichheit bekämpfen, und der einzige Schritt, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Mittelpunkt zu stellen. In der Praxis würde das so aussehen: Wenn wir die Kapitalgewinne der gehandelten Aktien von vier der derzeit am umweltschädlichsten agierenden Unternehmen (Exxon, Shell, Total und BP) nehmen, können wir mit unserer Steuer[2] fast 140 Milliarden USD erbringen. Das ist fast das Dreifache der spanischen öffentlichen Ausgaben für Bildung. Und das aus einer Besteuerung von nur vier Unternehmen.

Das Potenzial dieser Steuer ist enorm, und die EU braucht dieses Geld - die Menschen brauchen dieses Geld. Wenn es uns ernst damit ist, die Schwachen zu schützen und eine EU aufzubauen, die für die Menschen arbeitet - dann müssen wir in sie investieren. Die Einnahmen aus unserer Kapitalertragssteuer würden sowohl dem EU-Haushalt als auch den Haushalten der Mitgliedstaaten zugutekommen, um die Ungleichheit auf beiden Ebenen zu bekämpfen.

Mit unserem Vorschlag wollen wir für mehr Fairness in unserer Gesellschaft sorgen. Reichtum muss gerechter besteuert und verteilt werden. Wir können nicht in Gesellschaften leben, in denen die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen und Vorrang vor den Menschen bekommen, die mit ihren Steuern das Funktionieren unserer Gesellschaft erst ermöglichen.

Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der Lehrer*innen, Krankenpfleger*innen, Busfahrer*innen oder Bauarbeiter*innen zwei- bis dreimal so hoch besteuert werden wie Aktionär*innen.

Es ist an der Zeit, das System zu ändern und eine faire Kapitalertragssteuer einzuführen.

 


[1] Dieser Prozentsatz basiert auf der von der OECD verwendeten Methodik des Steuerkeils. Der Abgabenkeil ist definiert als die gesamten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gezahlten Steuern auf den Faktor Arbeit, abzüglich der Familienleistungen, in Prozent der Arbeitskosten. Betrachtet man ausschließlich die von den Arbeitnehmern gezahlten durchschnittlichen Nettosteuern, so ergibt sich für Deutschland ein Durchschnittswert von rund 36 % (einschließlich Sozialabgaben).

 

[2]Für die Berechnung wurde der Anstieg der Marktkapitalisierung aller vier Unternehmen zwischen Ende 2021 und Ende 2022 verglichen. Bei allen vier Unternehmen ist der Wert ihrer Aktien im Jahr 2022 erheblich gestiegen. Auch im Jahr 2023 sind ihre Aktien kontinuierlich gestiegen.

 

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