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Überarbeitete ungarische Verfassung

Entschließungsanträge / Grünen/EFA und S&D

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf Artikel 2, 3, 4, 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Artikel 49, 56, 114, 167 und 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), in denen es um die Achtung, die Förderung und den Schutz der Grundrechte geht,

–   unter Hinweis auf das Grundgesetz Ungarns, das am 18. April 2011 von der Nationalversammlung der Ungarischen Republik angenommen wurde (im Folgenden „die neue Verfassung“),

–   unter Hinweis auf die Stellungnahmen Nr. CDL(2011)016 bzw. CDL(2011)001 der Venedig-Kommission zur neuen ungarischen Verfassung bzw. drei rechtlichen Fragen, die sich aus dem Verfahren der Ausarbeitung der neuen ungarischen Verfassung ergeben,

–   unter Hinweis auf den Entschließungsantrag Nr. 12490 des Europarates zu den schwerwiegenden Rückschlägen auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Ungarn, der am 25. Januar 2011 in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eingereicht wurde,

–   unter Hinweis auf das Urteil Nr. 30141/04 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Schalk und Kopf gegen Österreich) und insbesondere dessen obiter dicta,

–   gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 und Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass sich die Europäische Union gemäß Artikel 2 EUV auf die Werte der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und auf die eindeutige Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der EMRK gründet, sowie ferner auf die Anerkennung der Rechtsgültigkeit dieser Rechte, Freiheiten und Grundsätze, was sich auch an dem bevorstehenden Beitritt der EU zur EMRK zeigt,

B.  in der Erwägung, dass die Ausarbeitung und Annahme einer neuen Verfassung nach dem Beitritt zur EU einen ungewöhnlichen Akt darstellt, sowie in der Erwägung, dass – obgleich die Mitgliedstaaten das ausschließliche Recht zur Ausarbeitung und Annahme neuer Verfassungen haben – auf EU-Ebene der Form der betreffenden Dokumente und den zur Anwendung gekommenen Verfahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, um zu gewährleisten, dass Buchstabe und Geist der angenommenen Verfassungen nicht im Widerspruch zum Buchstaben und Geist des Besitzstands der Union stehen,

C. in der Erwägung, dass die Ausarbeitung und Annahme der neuen Verfassung in einem außergewöhnlich kurzen Zeitraum erfolgt sind, sodass eine gründliche, echte öffentliche Debatte über den Textentwurf nicht möglich war,

D. in der Erwägung, dass die neue Verfassung nur mit den Stimmen der Abgeordneten der Regierungsparteien angenommen und somit kein politischer Konsens erzielt wurde,

E.  in der Erwägung, dass es die von der Venedig-Kommission geäußerten Bedenken teilt, insbesondere im Hinblick auf Transparenz, Offenheit und Integration und den Zeitrahmen für das Annahmeverfahren, sowie im Hinblick auf Änderungen am Prinzip der Gewaltenteilung, darunter vor allem die Bestimmungen zum neuen ungarischen Verfassungsgericht sowie zu Gerichten und Richtern, welche die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz gefährden können,

F.  in der Erwägung, dass in der neuen Verfassung eine Reihe von Grundsätzen, die Ungarn aufgrund seiner internationalen Verpflichtungen zu achten und zu fördern gehalten ist, nicht ausdrücklich verankert sind, wie beispielsweise das Verbot der Todesstrafe, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung und die Aussetzung oder Einschränkung von Grundrechten durch besondere Rechtsvorschriften,

G. in der Erwägung, dass die neue Verfassung durch die in ihr verankerten Werte und ihre unklaren Formulierungen bei der Definition grundlegender Begriffe wie „Familie“ und des Rechts auf Leben ab dem Augenblick der Empfängnis die Gefahr einer Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten, Alleinerziehender, Personen, die in einer zivilen Partnerschaft leben, und Frauen in sich birgt,

H. in der Erwägung, dass die neue Verfassung nicht ausdrücklich garantiert, dass Ungarn die territoriale Unversehrtheit anderer Länder achtet, und dass das Fehlen einer solchen Bestimmung in Verbindung mit unklaren Formulierungen in der Präambel – insbesondere derjenigen Teile, in denen es um die Verpflichtungen des ungarischen Staates gegenüber im Ausland lebenden Magyaren geht – eine Rechtsgrundlage für Handlungen schaffen kann, die Nachbarländer als Einmischung in innere Angelegenheiten auffassen könnten, was zu Spannungen in der Region führen kann,

I.   in der Erwägung, dass in der neuen Verfassung festgelegt ist, dass ihre Präambel Rechtskraft besitzt, was rechtliche und politische Auswirkungen haben und zu Rechtsunsicherheit führen kann,

J.   in der Erwägung, dass die Aufnahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in die neue Verfassung zu Kompetenzüberschneidungen zwischen ungarischen und internationalen Gerichten führen kann, wie aus der von der Venedig-Kommission abgegebenen Stellungnahme hervorgeht,

K. in der Erwägung, dass die neue Verfassung – im Gegensatz zur alten – festlegt, dass die offizielle Währung Ungarns der Forint ist, was die künftige Annahme des Euro erschweren kann, da unnötige rechtliche Hürden aufgebaut werden,

L.  in der Erwägung, dass die neue Verfassung einen umfangreichen Rückgriff auf Grundlagengesetze vorsieht, für deren Annahme ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist und die eine große Bandbreite von Themen im Zusammenhang mit dem institutionellen System Ungarns und den Grundrechten betreffen, sowie in der Erwägung, dass deren Annahme dadurch de facto Teil des neuen ungarischen Verfassungsprozesses ist,

M. in der Erwägung, dass gemäß der neuen Verfassung eine Reihe von Angelegenheiten, beispielsweise besondere Aspekte des Familienrechts oder das Steuer- und Rentensystem, die normalerweise in den Zuständigkeitsbereich der Regierung fallen oder dem regulären Entscheidungsverfahren der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, auch durch ein Grundlagengesetz zu regeln sind, wodurch die Bedeutung künftiger Wahlen geschmälert wird und einer Regierung mit Zweidrittelmehrheit weitere Möglichkeiten eröffnet werden, ihre politischen Präferenzen festzuschreiben, sowie in der Erwägung, dass durch den Erlass spezifischer und detaillierter Vorschriften im Rahmen von Grundlagengesetzen daher der Grundsatz der Demokratie gefährdet werden kann,

N. in der Erwägung, dass – wie auch die Venedig-Kommission betont – kultur-, religions-, gesellschafts-, wirtschafts- und finanzpolitische Bestimmungen nicht in Grundlagengesetzen festgeschrieben werden sollten,

O. in der Erwägung, dass der wiedererrichtete Haushaltsrat die Befugnis erhält, ein Veto gegen die Annahme des Haushaltsplans einzulegen, und in diesem Fall der Staatspräsident die Nationalversammlung auflösen kann, wodurch die demokratisch gewählte Legislative in ihrem Wirken erheblich eingeschränkt wird,

P.  in der Erwägung, dass das effektive System mit vier parlamentarischen Bürgerbeauftragten so beschnitten werden soll, dass es nur noch einen allgemeinen Bürgerbeauftragten und dessen zwei Stellvertreter gibt, durch die der Schutz der Rechte nicht in demselben Maße gewährleistet sein dürfte und deren Zuständigkeiten nicht diejenigen des früheren Bürgerbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit umfassen werden, sowie in der Erwägung, dass die Zuständigkeiten dieses Bürgerbeauftragten auf eine Behörde übertragen werden sollen, deren Funktionsweise nicht festgelegt ist,

Q. in der Erwägung, dass die ungarische Regierung und die Regierungsparteien parallel zu der Annahme der neuen Verfassung zahlreiche Schlüsselpositionen neu besetzt haben, beispielsweise die des Generalstaatsanwalts, des Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofs und des Präsidenten des Haushaltsrats,

R.  in der Erwägung, dass – wie es die neue Verfassung verlangt – das ungarische Parlament die Richter gewählt hat, die Mitglieder des neuen ungarischen Verfassungsgerichts sein werden, in der Erwägung, dass das Nominierungsverfahren und die Wahl nicht von politischem Konsens getragen waren, sowie in der Erwägung, dass die neue Verfassung sehr allgemeine Bestimmungen zum Rechtssystem enthält und es offenlässt, ob der Oberste Gerichtshof – unter seinem neuen Namen – seinen derzeitigen Präsidenten behalten wird,

S.  in der Erwägung, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates beschlossen hat, auf der Grundlage der Stellungnahme der Venedig-Kommission einen Bericht über die neue ungarische Verfassung vorzubereiten,

T.  in der Erwägung, dass die Ausarbeitung und Annahme einer neuen Verfassung nicht im Wahlprogramm der Regierungsparteien enthalten war,

U. in der Erwägung, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, erklärt hat, er würde es begrüßen, wenn die ungarische Regierung in Ungarn und beim Europarat oder den Vereinten Nationen um Rat suchen und Empfehlungen einholen würde, und der Ansicht ist, Ungarn solle sich als Mitgliedstaat der Europäischen Union an die Organe der EU wenden, um Ratschläge einzuholen und die neue Verfassung prüfen zu lassen,

1.  fordert die ungarische Regierung auf, die Empfehlungen aus der Stellungnahme der Venedig-Kommission zu prüfen und sich den darin aufgeworfenen Fragen und Bedenken zu widmen, sei es durch eine Änderung der neuen Verfassung, durch Auslegungen der neuen Verfassung oder durch künftige Grundlagengesetze und gewöhnliche Gesetze;

2.  fordert die ungarische Regierung auf, aktiv einen Konsens anzustreben, damit ein höheres Maß an Transparenz gewährleistet wird und damit echte politische und soziale Inklusion sowie eine breite öffentliche Debatte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Ausarbeitung und Annahme der in der neuen Verfassung verankerten Grundlagengesetze gefördert werden;

3.  fordert die ungarische Regierung auf, bei dem Grundlagengesetz über die grundlegenden Bestimmungen des Steuer- und Rentensystems einen eng gefassten Ansatz zu wählen, damit künftige Regierungen und demokratisch gewählte Legislativen eigenständige Entscheidungen über die Finanzpolitik des Landes treffen können; fordert die ungarische Regierung in diesem Zusammenhang auf, das derzeitige Mandat des Haushaltsrats zu überprüfen;

4.  fordert die ungarische Regierung auf, eine Änderung der neuen Verfassung, und insbesondere von deren Präambel, in Erwägung zu ziehen, und zwar dahingehend, dass die Rechte eines jeden Bürgers, ungeachtet seiner religiösen, ethnischen oder sonstigen gesellschaftlichen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung, gleichermaßen geschützt werden, und dass eine ausdrückliche Erklärung zur Trennung von Kirche und Staat aufgenommen wird;

5.  fordert die ungarische Regierung auf, die neue Verfassung, einschließlich ihrer Präambel, dahingehend zu ändern, dass ausdrücklich sichergestellt wird, dass Ungarn die territoriale Integrität anderer Länder achtet, wenn es um die Unterstützung von im Ausland lebenden Magyaren geht;

6.  fordert die ungarische Regierung auf, die Unabhängigkeit der Justiz zu bekräftigen, indem das Recht des neuen ungarischen Verfassungsgerichts zur ausnahmslosen Überprüfung von Rechtsakten in Bezug auf den Haushalt – entsprechend den Erfordernissen der auf der EMRK basierenden Rechtsvorschriften – wiederhergestellt, die Bestimmung zum niedrigeren obligatorischen Pensionsalter der Richter überprüft und die Unabhängigkeit der Verwaltung des Justizwesens ausdrücklich gewährleistet wird;

7.  legt der ungarischen Regierung nahe, eine Änderung der neuen Verfassung in Erwägung zu ziehen, und zwar dahingehend, dass alle zivilen und sozialen Grundrechte im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen Ungarns geschützt werden, ein Verbot der Todesstrafe, der lebenslänglichen Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung sowie der Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung aufgenommen wird, ausreichende Garantien im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte vorgesehen werden und aus der Verfassung deutlich hervorgehen sollte, dass die Bürger Ungarns bereits mit der Geburt bedingungslose Grundrechte erhalten;

8.  fordert die ungarische Regierung auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Umgestaltung des Systems der parlamentarischen Bürgerbeauftragten nicht dazu benutzt wird, die bestehenden Garantien im Hinblick auf den Schutz und die Förderung von Rechten auf den Gebieten des Schutzes nationaler Minderheiten, des Schutzes personenbezogener Daten und der Transparenz von Informationen, die für die Öffentlichkeit relevant sind, sowie die Unabhängigkeit der entsprechenden, für diese Bereiche zuständigen Gremien zu verwässern;

9.  fordert die ungarische Regierung auf, sicherzustellen, dass durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte in die neue Verfassung keine Schwierigkeiten in Bezug auf deren Auslegung noch auf etwaige Kompetenzüberschneidungen zwischen den innerstaatlichen Gerichten, dem neuen ungarischen Verfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union entstehen;

10. fordert die Kommission auf, eine detaillierte Überprüfung und Analyse der neuen Verfassung und der künftig anzunehmenden Schwerpunktgesetze durchzuführen, um zu ermitteln, ob sie mit dem Besitzstand der Union und insbesondere der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit Buchstaben und Geist der Verträge in Einklang stehen;

11. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Europarat, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Agentur für Grundrechte und der OSZE zu übermitteln.

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Zuständige Abgeordnete

Judith Sargentini
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MdEP

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